Die etwa 13jährige Hilde wird von einem ca. 45-jährigen Witwer als Pflegekind aufgenommen und lebt mit ihrem Stiefbruder Martin einige unbeschwerte Jahre auf dem ländlichen Gut, bis sich die jungen Menschen ineinander verlieben. Das gefällt dem Pflegevater gar nicht, der seinerseits ein Auge auf die nunmehr 19-jährige junge Frau geworfen hat, es sich aber nicht eingestehen möchte. Es kommt zu einer heiklen Situation zwischen Vater und Sohn mit drastischen Konsequenzen. Auch hier zieht einen Fontanes feiner, kluger Blick auf den Menschen mit all seinen Eigenarten, Eitelkeiten und Kämpfen in seinen Sog. Man wird in eine Familie, eine Gesellschaft, eine Lebenskultur eingeführt und bekommt ein Gefühl dafür, was in solchen Kreisen und Gegenden üblich und was Sitte ist und wie man reagiert, wenn jemand davon abweicht. Diese Bewertungen werden auch vom Erzähler vermittelt, der mit psychologischem Scharfsinn schildert, hintersinnt und urteilt.
»Sie ist gerade einundzwanzig geworden, sie kommt sich immer noch vor, als wäre sie auf Durchreise, sie will begreifen, was sie umgibt. Doch das Wahre vom Falschen zu unterscheiden ist so, als müsste sie lernen, mit geschlossenen Augen zu schielen.« (S. 104f.) *** Diese sechs Jahre währende Chronik einer Selbstfindung ist eindrücklich, mit einer kühlen, bildstarken Sprache, und teilweise schwer auszuhalten, so orientierungslos und selbstzerstörerisch torkelt die 17jährige Hauptfigur namens April von der Jugendhilfe ins Erwachsenenalter. Ihrer schweren Kindheit ist sie entronnen, sie bleibt jedoch eine vom frühen Schicksal Gezeichnete, die sich an der Welt schneidet. Weder findet sie Frieden noch würde sie diesem trauen – ein Teufelskreis. Was sie hat: eine scharfe Wahrnehmung. Nur müsste sie es fertigbringen, daraus Literatur zu machen. Der Roman mit autobiographischem Bezug schließt an den Vorgänger ›Das Mädchen‹ (2011) an und spielt hauptsächlich in Ost- und Westberlin in den frühen 1980ern. (Bild: Adrien Olicon from Pexels)
Die neun kurzweiligen Geschichten von durchschnittlich 20 Seiten sind lose miteinander verknüpft und führen uns traurige, tragische und komische Existenzen vor Augen, wobei zumeist eine ironische Distanz gewahrt wird. Manche Figuren kommen mehrmals vor, z.B. der internetsüchtige Angestellte einer Telekommunikationsfirma. Sie sind Schriftsteller, Schauspieler oder bei Exit angemeldet. Die Kehrseite des Ruhms ist genauso ein Thema wie das Streben danach wie die Tücken mobiler Gerätetechnik.
Handke setzt sich in dieser halbbiographischen Erzählung mit der Lebens- und Sterbegeschichte seiner Mutter auseinander, die sich mit 51 Jahren das Leben nimmt. Dabei erforscht und illustriert er exemplarisch und stellvertretend für eine ganze Generation die Schwierigkeiten einer Frau aus einfachen Verhältnissen, sich selbst zu emanzipieren und zu verwirklichen. Sie schwankt zwischen Auflehnung und Anpassung, Liebe und Pflichtehe, Entdeckung der eigenen Individualität und Zurücknahme. Bild: Dorothee Hartinger und Daniel Sträßer in einer Bühnenfassung von Katie Mitchell am Burgtheater Wien 2014.
In einem abgelegenen Bauerndorf wird ein musikalisches Wunderkind geboren, das über ein absolutes Gehör verfügt. Als seine große Liebe einem anderen versprochen wird, beschliet er, nicht mehr zu schlafen. Gewisse Parallelen zu Süskinds Roman ›Das Parfum‹ bestehen insofern, als beide Protagonisten mit einer außerordentlichen Gabe ausgerüstet sind und ansonsten Außenseiter am Rande der Gesellschaft darstellen, welche in diesem Fall eine ganz und gar dumme und bösartige ist. Bild: André Eisermann und Ben Becker in einer Szene aus Joseph Vilsmaiers Verfilmung (1995)
Was ist, wenn du Klavier studierst und dein Kommilitone Glenn Gould heißt, in dem du sofort das Genie erkennst, das du nicht bist? Oder: Ist Kunst zweiten Ranges überhaupt noch Kunst? Der Ich-Erzähler hat das Studium aufgegeben und sein Freund Wertheimer auch. Dessen Suizid bietet nun Anlass, die Vergangenheit aufzurollen. Ein schwarzer Roman über Kunst, die Last der Perfektion und das Scheitern. (Bild)
»Ein ganzes Volk glaubte an den Weihnachtsmann. Doch der Weihnachtsmann war in Wirklichkeit ein Gasmann.« Hitler wurde von seinen politischen Wegbereitern 1933 noch herablassend als vermeintlicher Trommler bezeichnet: Einer, der den Takt, aber nicht den Ton angibt. Oskar Matzerath ist auch ein Trommler, der sich durchzusetzen weiß, wenn auch nur ein Blechtrommler. Klein, aber hallo. Im Alter von 3 Jahren beschließt er, nicht mehr zu wachsen und verkörpert fortan vorsätzlich den körpergewordenen nervtötenden Protest gegen die Erwachsenenwelt: Ein berühmter Literaturkritiker sagte über die Intention des Buches sogar: »Oskar protestiert physiologisch und psychisch gegen die Existenz schlechthin. Er beschuldigt den Menschen unserer Zeit, indem er sich zu einer Karikatur macht. Der totale Infantilismus ist sein Programm.« Oskar ist aber keine Identifikationsfigur, dazu trägt er zu sehr den Hang zum Bösen in sich. – Grass‘ umfangreicher Erstling war ein Wurf. Da erhob ein selbsternannter Gnom die Stimme und erzählte von dem gerade erste zu Ende gegangenen dunklen Kapitel. Das Buch – Schelmenroman und Entwicklungsgeschichte, Sittenbild und Satire – wurde allerdings kaum wegen seiner Momente künstlerischer Verfremdung zu einem der wichtigsten Dokumente der Zeitgeschichte und Vergangenheitsbewältigung, das es heute ist. Den meisten erzählte es zum ersten Mal nach 1945 mit großem Gestus und einer kräftigen Sprache vom Aufstieg der Nazis und dem durchschnittlichen Mitläufer – vor allem Oskars Beinahevater Alfred Matzerath. Der biologische Vater ist ein Pole, Cousin und Liebhaber von Oskars Mutter. Der Roman spielt lange Zeit in Grass‘ Heimatstadt Danzig, später am Atlantikwall und in Westdeutschland. Er zieht sich in drei Teilen bis ins Jahr 1954. Wieso Grass Oskar die Blechtrommel als Markenzeichen gibt und worin die eingangs erwähnte Parallele zu Hitler genau bestehen soll, bleibt opak. Bild: David Bennent als Oskar in Schlöndorffs Verfilmung von 1979.
Eine Novelle mit übernatürlichen Elementen über die Legende eines ehrgeizigen und klugen Deichbauers, der mit seiner Nüchternheit die abergläubischen Bewohner des ostfriesischen Küstenortes gegen sich aufbringt. (Bild)
1933: Faschismus, Kino und Japan. Der NZZ-Rezensent meint dazu: Indem »Kracht mit dem [historischen Kulturjournalisten] Kracauer auf den Stummfilm und das stumme Grauen des aufziehenden Nazi-Terrors ] bringt er die Barbarei zum Sprechen«. (NZZ vom 10.9.16)Überblick
Ein Sohn begehrt gegen den greisenhaften Vater auf, der sich daraufhin aus dem Nichts auf mirakulöse Weise verjüngt. Er hinterfragt die Existenzberech-tigung des Sohnes, nennt ihn einen Hochstapler und behauptet sich als letzte Instanz der Wahrheit. Ein starkes Stück Literatur, in nur einer Nacht geschrieben. (Bild)